Review
AlternativeIndieRock
Kritik: Kettcar - "Gute Laune, ungerecht verteilt"
Geschlagene 89.287 Klicks in sieben Tagen. Das Video zur Kettcar-Single „München“ blies gewaltig Wind in die Fahnen derer, denen der ...
VON
Dennis Grenzel
AM 03/04/2024
Artikel teilen:
Geschlagene 89.287 Klicks in sieben Tagen. Das Video zur Kettcar-Single „München“ blies gewaltig Wind in die Fahnen derer, denen der Verbundenheitsgedanke in einer Gesellschaft noch immer wichtiger ist als der deutsche Pass des Nebenmanns. Und rechnete man das plump hoch auf unsere 83,86 Millionen Einwohner, so hätten Kettcar – vorausgesetzt der ungebrochenen Begeisterung ihrer leider durch und durch zeitgemäßen politischen Botschaft – in 18,01 Jahren dieses Land komplett befriedet. Oder in Sachen Alltagsrassismus zumindest zum Nachdenken bewegt. Was einer nicht minder wichtigen Intention gleichkäme.
KETTCAR: TEXTLICHE INHALTE SIND LEIDER BRISANTER DENN JE
Kettcar sind wichtig. Noch immer. Sie stehen für die kleinen Momente, die unser Leben binnen weniger Bruchteile von Sekunden ganz groß werden lassen können. Im Mittelpunkt stets der eine Gedanke, das eine Gefühl, das uns aus dem alltäglichen Sumpf holt und uns für kurze Zeit tatsächlich wieder so etwas wie ein Mensch werden lässt.
Nur ist eben diese Erfahrung eben nicht immer nur schön, bedenkt man, dass wir in einer Zeit leben, in der so etwas wie Deportation – zumindest für einen nicht zu unterschätzenden Teil der Bevölkerung – wieder ein salonfähiges politisches Konzept ist, das später unter den Augen der großen Öffentlichkeit wieder weggeschwiegen und gänzlich massenverträglich aufgeweicht wurde. Dem Punk entstammend, repräsentieren Kettcar auch nach all der Zeit und mit dem neuen Album „Gute Laune, ungerecht verteilt“ einen Gegenentwurf zu eben genanntem Gedanken“gut“ für die glücklicher Weise immer noch gerade denkende gesellschaftliche Mitte.
„Auch für mich 6. Stunde“ ist gerade mal hitlastig genug, um den Eindruck eines abholenden wie in lyrischer Hinsicht episch anmutenden Kettcar-Openers aufkommen zu lassen und wirkt trotz prüfenden Blickes auf die Gesellschaft doch stilvoll und zurückhaltend zugleich. Das läuft sich tatsächlich recht gut an, bevor mit eingangs erwähntem „München“ gleich die zweite Fahne gesetzt wird. „Doug & Florence“ unterstreicht die Chancenungleichheit in dieser unseren Gesellschaft, bleibt musikalisch dabei jedoch zu jeder Minute vergleichsweise banal und wirkt tatsächlich uninspiriert. Die instrumentelle Struktur bricht unter der textlichen Bedeutungsschwere dann leider doch recht schnell zusammen.
KETTCAR SPRECHEN DEM HÖRER NICHT GERADE SELTEN AUS DER SEELE
Im Fall von „Rügen“ weiß man zuallererst gar nicht, wie man sich fühlen soll: verstanden oder ernüchtert. In diesem speziellen Fall lässt einen eben genau dieser Song trotz beschriebener Flatline lächelnd und in Sachen Zukunft mit dem nötigen Grundoptimismus zurück. „Blaue Lagune, 21:4 5Uhr“ als auch „Was wir sehen sollten“ sind recht leise endende, zwischenzeitlich jedoch heimliche wie gleichsam unaufdringliche musikalische Höhepunkte auf „Gute Laune, schlecht verteilt“, welche diese typischen Kettcar-Momente bergen, die auch anno 2024 noch dafür sorgen, dass man sich über die bereichernde Existenz der Hamburger Band noch immer so freut.
„Wir betraten die Enterprise mit falschen Erwartungen“ wirkt mit seinem leicht verschrobenen Leadgeplänkel herrlich entspannt und rückwärtsgewandt, fast schon so als versuchten Kettcar hier, Death Cab For Cuties „The Photo Album“ in den Elbsand zu pinkeln.
Viel schöner als mit „Ein Brief meines 20-jährigen Ichs (Jedes Ideal ist ein Richter)“ hätte man „Gute Laune, schlecht verteilt“ dann nicht beschließen können. Textlich umfasst Wiebusch dabei ganze Dekaden, wirkt bei aller Bodenhaftung und jeglichen Erkenntnissen, die die Zeit eben mit sich bringt, doch nie verbittert.
Foto: Andreas Hornoff / Offizielles Pressebild
More Reviews