
Review
EmoPost-Hardcore
Kritik: Silverstein - „Antibloom“
Die Essenz aus 25 Jahren Silverstein.
VON
Tobias Tißen
AM 16/02/2025
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Ein Vierteljahrhundert Silverstein. In dieser Zeit trennten sich andere Bands dramatisch und inszenierten mit großem Tam-Tam ihr von Nostalgie getriebenes Comeback. Nicht so die Kanadier. Silverstein blieben einfach da. Keine längeren Auszeiten, keine radikalen Besetzungswechsel – vier der fünf Gründungsmitglieder sind noch immer an Bord. Nie vergingen mehr als drei Jahre zwischen zwei Alben.
Da verwundert es nicht, dass sich die Post-Hardcore-Veteranen zum Jubiläum nicht etwa auf einer halbgaren Best of-Platte oder einer reinen Nostalgie-Tour ausruhen. Nö: 25 fertige Songs waren nach den letzten Studiosessions im Kasten. Zu viel für ein einziges Album; zu gut, um die Hälfte davon auf einer Festplatte vermodern zu lassen, wie Sänger Shane Told uns im Interview verriet. Die Lösung: Zwei Jubiläumsalben. „Antibloom“ jetzt, „Pink Moon“ später im Jahr.
Aber ist die Qualität der Songs wirklich hoch, dass sie zwei Platten in einem Jahr rechtfertigt?
Unsere Einschätzung nach den ersten acht von insgesamt 16 Songs: Ohhh ja! „Antibloom“ ist nicht weniger als ein Destillat aus 25 Jahren Silverstein. Hier prallen die zwingende Rohheit von „When Broken Is Easily Fixed“, die ergreifende Emotionalität von „Discovering The Waterfront“ und die extrem eingängige, moderne Melodieentwicklung von „A Beautiful Place to Drown“ und „Misery Made Me“ aufeinander.
Bzzz, bzzzz, bzzzzz
Die ersten Klänge von „Antibloom“ überraschen. Der Opener „Mercy Mercy“ beginnt nicht mit einem wuchtigen Riff oder einem epischen Aufbau, sondern mit dem Sound eines vibrierenden Handys. „Als ich das erste Demo bekam, dachte ich, mein eigenes Handy vibriert“, erklärt uns Shane Told, „man wird als Hörer aus der eigenen Realität gerissen und in den Song hineingezogen.“
Der Effekt zementiert sofort die Atmosphäre des Tracks: Hektisch, überreizt, laut. Aggressive Shouts treiben die Strophen voran, bevor die Band in einen düsteren, melodischen Refrain übergeht. Am Ende entlädt sich die Anspannung in einem schwerfälligen, doomigen Breakdown. Ein eröffnender Donnerschlag, der zeigt: Silverstein wollen nicht einfach gefällig sein. Sie haben auch nach 25 Jahren noch was zu sagen.
Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Produktion von Sam Guaiana, der zuletzt unter anderem 2024 die neue, selbstbetitelte Platte von Neck Deep verantwortete. Schon auf „Misery Made Me“ bewies er, dass er Silverstein nicht nur versteht, sondern ihren Sound in neue Höhen schrauben kann. Auf „Antibloom“ perfektioniert er dieses Gespür: Die Gitarren knallen mit einer organischen Rauheit, die Drums besitzen eine wuchtige Klarheit, und Shane Tolds Vocals balancieren mühelos zwischen brüchiger Verletzlichkeit und wütender Intensität. Besonders auffällig: Trotz der modernen, druckvollen Produktion wirkt das Album zu keiner Sekunde steril. Es atmet, lebt.
Silverstein zwischen Nostalgie und Neuerfindung
Wer nach dem Opener nun ein schwermütiges Album erwartet, hat sich geschnitten: Direkt nach dem brachialen Auftakt folgt mit „Don’t Let Me Get Too Low“ der spaßigste Track der Platte. Die Band verbindet hier hymnischen Pop-Punk mit wuchtiger Post-Hardcore-Energie. Die Mischung aus melodischer Leichtigkeit und emotionaler Schwere erinnert an Kollegen wie The Story So Far – bleibt aber jederzeit unverkennbar Silverstein. Hier zeigt sich auch, wie geschickt die Band Nostalgie mit Neuerfindung verwebt: Der Song atmet den Geist von „Discovering The Waterfront“, klingt aber trotzdem jederzeit wie ein Song aus 2025 und nicht 2005.
„Confession“ macht den gelungenen Start ins Jubiläumsalbum dann perfekt. In den Strophen der melodischen Mid-Tempo-Hymne beschwören Silverstein eine dramatische Atmosphäre herauf, die sich in einem epischen Refrain entlädt. Gänsehaut! Auch hier gelingt Silverstein wieder scheinbar mühelos der Spagat zwischen den eigenen Wurzeln und der moderneren Ausrichtung der vergangenen Alben.
Der emotionale Kern von „Antibloom“
Bevor sie mit „Skin & Bones“ einen Tsunami an Emotionen über ihre Hörer hereinbrechen lassen, gönnen Silverstein ihnen noch etwas Ruhe vor dem Sturm: „A Little Fight“ tänzelt mit 80er-Synthpop-Vibes in die Tracklist und irritiert fast durch seine Leichtigkeit – vor allem durch die Platzierung direkt vor einem der ergreifendsten Songs der Bandgeschichte. Shane Told verarbeitet in „Skin & Bones“ nicht weniger als den tragischen Verlust seiner Ex-Freundin: „Sie wurde ermordet, das hat mich komplett aus der Bahn geworfen“, erzählt er uns im Interview, „jedes Mal, wenn ich diesen Song singe, denke ich an sie.“
Und das spürt man von der ersten bis zur letzten Sekunde. Der Track vereint Trauer, Wut, Verletzlichkeit und Hoffnung. Shane Tolds Vocals wechseln zwischen verletzlicher Klarheit und markerschütternden Schreien. Der Refrain ist kraftvoll und eingängig, während die Strophen intim bleiben. Hier ist ein weiteres Lob an die Produktion angebracht: Nichts wirkt überladen, jeder Ton erklingt genau dort, wo er die größte emotionale Wirkung entfaltet. „Skin & Bones“ ist eine intensive Tour de Force, die selbst ohne die tragische Hintergrundgeschichte mitten ins Herz treffen würde.
Silverstein grüßen die 90er!
Für alle, die von „Skin & Bones“ emotional noch nicht komplett ausgesaugt wurden, haben Silverstein im Anschluss den idealen Emotionen-Rausmosher im Angebot: „Stress“ dreht das Tempo drastisch nach oben und entpuppt sich als dreckiger, wütender Hardcore-Brecher. Die chaotischen Riffs und das stampfende Drumming wirken fast wie eine Hommage an den rotzigen Alternative-Metal der späten 90er. Shane Told selbst erinnert der Song „eher an Limp Bizkit als an eine Band von heute.“ Und recht hat er.
Zum Abschluss schalten Silverstein noch einmal komplett um: „Cherry Coke“ ist eine düstere, melancholische Ballade, die sich mit schwermütiger Schönheit ins Ohr schleicht – und „Antibloom“ somit abrundet.
Foto: Silverstein / Offizielles Pressebild
Antibloom
Künstler: Silverstein
Erscheinungsdatum: 21.02.2025
Genre: Post-Hardcore
Label: UNFD
Medium: CD, Vinyl, etc
- Mercy Mercy
- Don’t Let Me Get Too Low
- Confession
- A Little Fight
- Skin & Bones
- I Will Destroy This
- Stress
- Cherry Coke
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