
Review
Emo Post-Hardcore
Kritik: Silverstein - „Pink Moon“
Zum 25. Jubiläum erklimmen Silverstein den Gipfel ihres bisherigen Schaffens.
VON
Tobias Tißen
AM 07/09/2025
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Ein Vierteljahrhundert Silverstein. 25 Jahre ohne echte Pause, ohne „Wir lösen uns auf und kehren dann groß zurück“-Geste. Stattdessen waren die Kanadier immer da. Beständig, verlässlich – und doch stetig im Wandel.
Zum Jubiläum könnte man sich entspannt zurücklehnen, eine Best-of pressen und die Nostalgie für sich arbeiten lassen. Silverstein wählen den schwereren Weg: zwei Alben mit neuem Material. Im Abstand von nur rund einem halben Jahr.
Schon das im Frühjahr erschienene „Antibloom“ war ein Statement – und zwar ein herausragendes. Eine Platte, die 25 Jahre Bandgeschichte in komprimierter Form einfing. Wütend, hymnisch, voller Energie.
Aber gleichzeitig auch mit dieser unterschwelligen Frage: Was kommt da jetzt noch? „Pink Moon“ liefert die Antwort. Und sie fällt erfreulich aus: Die acht neuen Songs sind kein bloßer Nachklapp; nicht einfach „more of the same“.
Shane Told selbst hat in unserem Interview zu „Antibloom“ schon durchblicken lassen, dass „Pink Moon“ sogar sein Favorit unter den beiden Alben sein könnte. Dass hier all das zu hören ist, was sie über Jahre gelernt haben – noch emotionaler, noch nuancierter. „Behält er recht, wird das 2025er Gesamtwerk einen neuen Höhepunkt in der Karriere von Silverstein markieren“, lautete deshalb der Schlusssatz unserer „Antibloom“-Kritik.
Wo stehen Silverstein 2025? Auf dem Peak ihres Schaffens? Oder stürzen sie kurz vor dem Gipfel noch ab?
Wie hell leuchtet der „Pink Moon“?
Mit dem kurzen Intro „I Love You But I Have To Let You Go“ öffnen Silverstein den Vorhang zu „Pink Moon“ erstmal vorsichtig: atmosphärisch, gefühlvoll, mehr Andeutung als vollständiger Song. Ein kleiner Spannungsbogen, bevor der eigentliche Vorhang fällt.
Denn mit der ersten Single „Negative Space“ explodiert die Platte förmlich. Die Strophen hetzen, der Chorus treibt weiter nach vorne, am Ende stürzt alles in einen kathartischen Breakdown. Der Song lebt von seiner eigenen Hektik, wirkt ständig so, als würde er auseinanderfliegen – und genau das macht ihn so mitreißend.
„Drain The Blood“ mit Gastsänger Rory Rodriguez (Dayseeker) knallt anschließend kein Stück weniger als „Negative Space“. Der Song ist Faustschlag und Hymne zugleich, eine Mischung aus metallischer Härte und Melodien, die sofort im Ohr bleiben. Die Gitarren sind schneidend, das Schlagzeug hämmert, während der Refrain mit einer Wucht einschlägt, die an die besten Hymnen von „A Beautiful Place to Drown“ („Infinite“, „Burn It Down“) erinnert.
Inhaltlich beziehen Silverstein Stellung. „Drain the blood from the arm of the artist“ – eine Metapher für die Angst, dass Kreativität ausgeblutet wird in einer Welt, die immer stärker von Perfektion und Künstlichkeit diktiert wird. Ein Statement gegen die makellose Maschine, für das menschliche, kantige Unvollkommene. Ein Song, den man im Grunde als Kommentar zur wachsenden Rolle von künstlicher Intelligenz im Kreativprozess lesen muss – aktueller, relevanter geht’s kaum.
Mit „The Fatalist“ und „Widowmaker“ folgen zwei Tracks, die keine klassischen Singles sind – aber alles andere als Lückenfüller. Beide sind klassische „Grower“. Beim ersten Hören eher unscheinbar, sitzen sie spätestens nach drei, vier Durchläufen ebenfalls tief im Hirn. Hier zeigt sich, dass „Pink Moon“ nicht nur auf schnelle Ohrwürmer setzt.
„The Fatalist“ verpackt seine metallische Härte in dichte Riffs, nur um sie immer wieder mit einem offenen, melodischen Refrain aufzuweichen – ein Spagat, den Silverstein seit mehreren Alben perfektionieren. „Widowmaker“ schleicht sich mit Midtempo an, baut langsam Druck auf und bricht am Ende in wütende Shouts aus, bevor der Song wie eine Welle wieder in sich zusammensackt.
Nostalgie trifft Gegenwart
Einer der spannendsten Momente auf „Pink Moon“ ist „Autopilot“ mit Gastvocals von Cassadee Pope. Der Song ist der Silverstein-Song aus 2025, den man am ehesten als klassische Emo-Hymne bezeichnen kann. Ohne dass er dabei jemals zur platten Retro-Show verkommt.
Shane Told hat in unserem Interview selbst eingeräumt, dass Silverstein in den letzten Jahren manchmal zu sehr nach vorne geschielt und dem Drang zur Weiterentwicklung zu schnell nachgegeben hätten. „Pink Moon“ zeigt, wie gut es funktionieren kann, wenn man die eigenen Wurzeln nicht nur zitiert, sondern neu belebt. In „Autopilot“ wird das besonders deutlich:
Das Ergebnis klingt beinahe so, als hätte man eine B-Seite von „Discovering the Waterfront“ aus dem Jahr 2005 genommen und sie ins Jahr 2025 katapultiert. Es ist dieser Moment, in dem Silverstein zeigen, dass sie ihre eigene Vergangenheit nicht verleugnen müssen, um im Jetzt relevant zu sein.
Inhaltlich singt Shane von mentaler Erschöpfung: „I’m on autopilot, turbulence inside my head.“ Cassadee Pope bringt trotz des schweren Themas eine auflockernde Spur Leichtigkeit mit, die sich perfekt mit Shanes Stimme reibt.
„Death Hold“ hält danach erneut gekonnt die Balance zwischen unterschwelliger Poppigkeit und düsterer Schwere – bevor mit „Dying Game“ nochmal eine ganz andere Stimmfarbe wartet, die zusammen mit dem gefühlvollen Intro „I Love You But I Have To Let You Go“ eine Klammer um den ruhelosen Hauptteil des Albums schließt.
Gezupfte Gitarren, Shanes Stimme ganz vorne, minimalistische Instrumentierung. Hier gibt es keine große Geste, keine Hook, die auf den nächsten „My Heroine“-Moment schielt. Stattdessen eine intime Nahaufnahme, verletzlich, roh, fast unbequemer als man erwarten würde. Eine der ehrlichsten Balladen der Bandgeschichte.
Neben dem starken Songwriting glänzt „Pink Moon“ übrigens auch klanglich. Die Produktion fängt die Balance zwischen Härte und Melodie perfekt ein: druckvoll und modern, aber nie glattgebügelt.
Zurück zum Anfang: Wo stehen Silverstein 2025?
Und damit schlagen wir den Bogen Ausgangsfrage: Was ist „Pink Moon“ im Verhältnis zu „Antibloom“? Und wie fällt der Blick auf den Gesamt-Output von Silverstein im Jubiläumsjahr aus?
„Pink Moon“ ist keine B-Seiten-Sammlung (was ja auch nicht zu erwarten war), sondern vielmehr die logische Fortsetzung derselben Idee.„Antibloom“ war das Destillat aus einem Vierteljahrhundert Silverstein – die unbändige Energie der Anfangsalben gepaart mit der modernen Eingängigkeit der letzten Jahre. „Pink Moon“ greift diese Energie auf, denkt sie weiter, fügt neue Farben hinzu.
Beide Alben leben von derselben Handschrift: den wuchtigen Ausbrüchen, den hymnischen Refrains, den Momenten der Verletzlichkeit. Songs wie „Negative Space“ und „Drain The Blood“ reihen sich nahtlos neben „Mercy Mercy“ oder „Skin & Bones“ ein. Es gibt keine Brüche, sondern eine gemeinsame Sprache.
Foto: Wyatt Clough / Offizielles Pressebild
Pink Moon
Künstler: Silverstein
Erscheinungsdatum: 12.09.2025
Genre: Post-Hardcore
Label: UNFD
Medium: Streaming, CD, Vinyl, etc
- I Love You But I Have To Let You Go
- Negative Space
- Drain The Blood (feat. Rory Rodriguez von Dayseeker)
- The Fatalist
- Widowmaker
- Autopilot (feat. Cassadee Pope)
- Death Hold
- Dying Game
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