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MoreCare Week: Was ist eigentlich Borderline?

Und was genau ist eigentlich eine Persönlichkeitsstörung?

VON AM 22/11/2020

Hast du schon einmal gehört, wie Personen, die an einer Depression erkannt sind, als „faul“ bezeichnet wurden? Oder dass Menschen, die sich selbst verletzten, unterstellt wurden, sie würden nur Aufmerksamkeit wollen?

Betroffenen von psychischen Erkrankungen alle über einen Kamm zu scheren und ihnen solche negativen Eigenschaften anzuheften, nennt man Stigmatisierung. Eine Stigmatisierung ist sehr belastend für die Betroffenen und führt oft dazu, dass sie sich scheuen Hilfe zu suchen oder offen über ihre Probleme und Symptome zu reden.

Persönlichkeitsstörungen sind besonders stark von Stigmatisierung betroffen. Für viele klingt alleine das Wort der Erkrankung abschreckend. Wer möchte schon eine gestörte Persönlichkeit haben oder etwas mit „gestörten Persönlichkeiten“ zu tun haben?

Was sind überhaupt Persönlichkeitsstörungen?

Im Grunde genommen ist der Begriff der PS veraltet; sehr moderne Literatur geht dazu über, sie als „Interaktionsstörung“ zu bezeichnen, da ihre Anteile, die dysfunktional sind, nicht wie vermutet, in der “Persönlichkeit” liegen, sondern viel mehr in ihrer Beziehungsgestaltung. Das grenzt sie aber meist auch direkt von z.B. der Depression ab, da es hier um ein “internes” Problem geht; diese kann zwar auch die Beziehungsgestaltung erschweren, liegt aber nicht im Fokus.

Auch ein oft klarer Unterschied liegt in der sogenannten „Ich-Syntonie“; der Begriff bedeutet, dass eine Person ihre Gedanken und Impulse zu ihrem “Ich” gehörend erlebt und auch keinen Leidensdruck erzeugt, was bei einer Interaktionsstörung deutlich öfter vorkommt. Bei einer Depression oder Panikstörung erleben Betroffene dies oft nicht so, deshalb nennt man diese Störungen auch oft “Ich-Dyston“, also nicht zugehörig.

Eine von diesen Persönlichkeits- oder Interaktionsstörungen, die Borderline Persönlichkeitsstörung (BPS), ist besonders stark stigmatisiert. Es kursieren viele Vorurteile und extreme Meinungsbildern zu Personen mit BPS. Wir wollen euch mit unserer sehr kurzen Einführung in die BPS diesem schädlichen Bild von der Störung ein neutraleres und verständnisvolleres entgegensetzen.

Borderline und gefährlich? Passt das zusammen?

Die Borderline Persönlichkeitsstörung (BPS) wird auch als emotional instabile Persönlichkeitsstörung des Borderline-Typs bezeichnet. Damit wird bereits das Kernsymptom dieses Störungsbildes benannt: Eine ausgeprägte emotionale Instabilität. Die zeigt sich in häufigen Stimmungsschwankung und heftigen emotionalen Reaktionen.

Eine Person mit einer BPS reagiert somit auf ein frustrierendes Ereignis im Alltag nicht bloß enttäuscht, sondern kann innerhalb von Minuten in tiefe Verzweiflung oder Wut stürzen. Durch diese schnellen Gefühlsänderungen und die Stärke der Gefühlsintensität neigen Betroffene zu impulsiven Handlungen: Zu viele und zu extrem erlebte Emotionen stauen sich in ihnen an, bis es sich anfühlt, als können sie es nicht mehr aushalten. Dann wird zum Beispiel versuch,t sich durch selbstverletztendes Verhalten (oder kurz: SVV) selbst zu regulieren. Dieses hat oftmals einen entspannenden oder auch ablenkenden Effekt.

Hier ist aber einiges zu verstehen bzw. zu beachten: SVV kennen wir oft als das “Ritzen” oder eben die körperliche Selbstverletzung; SVV kann es aber auch sein, wenn man sich ständig in Beziehungen oder Situationen stürzt, die mit großer Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass man emotional verletzt wird. Oft entsteht hier ein sehr starker Reiz, der wieder etwas anders als die überbrodelnden Gefühle wahrgenommen werden. Auch andere impulsive Verhaltensweisen entspringen dieser großen emotionalen Spannung: Manche Betroffene werden plötzlich ablehnend und entziehen sich ohne Vorwarnungen aus Beziehungen oder Situationen, um sich auf diese Weise wieder selber spüren und die Anspannung reduzieren zu können.

Durch ein solches Verhalten, das von außen unberechenbar und schwer nachvollziehbar erscheinen kann, sind Vorurteile entstanden, die Personen mit einer BPS als „beziehungsunfähig“, „manipulativ“, „gewaltbereit“ und sogar „gefährlich“ labeln.

Eine Gewaltbereitschaft oder Motivation andere für eigene Interessen auszunutzen, ist jedoch kein Element einer BPS! Solche Charaktereigenschaften können einzelne Personen ganz unabhängig einer Persönlichkeitsstörung aufweisen. Zu der Borderline-Störung gehört nur ein Hang zur Impulsivität. Dieser kann bei einer sowieso schon eher gewaltbereiten Person zu gefährlichen Wutausbrüchen führen. Bei vielen anderen Menschen zeigt sich die Impulsivität jedoch auf ganze andere Weise. So kann es beispielsweise auch zu Impulskäufen, vorschnellen Trennungen in Beziehungen oder eben Verletzungen der eigenen Person kommen.

Beziehungsunfähig sind Betroffene ebenfalls nicht. Durch die schnellen Veränderungen in der Gefühlswelt einer Person mit einer Borderlinestörung kann auch eine Partnerschaft sehr wechselhaft und aufwühlend sein. Im Kern der BPS steht zudem eine starke Angst, verlassen zu werden. Diese führt zu teilweise extremen Handlungen, um ein solches Verlassenwerden zu verhindern. Dabei kann es zu verzweifelten Taten wie der Androhung oder Durchführung von Selbstverletzung oder auch der Suiziddrohung kommen. Diese Handlungen werden jedoch nicht aktiv zur Manipulation der anderen Person ausgeführt, sondern entspringen einer kaum zu ertragenen Verzweiflung der Betroffenen.

Beziehungen sind Dreh- und Angelpunkt

Bei einem Großteil der Menschen mit einer BPS gab es traumatischer Erfahrungen in der frühen Kindheit. So haben diese Menschen oft erlebt, dass ihre Eltern plötzlich zum Auslöser von schlimmsten Leid oder dem Erleben von Verlassen werden wurden. Während sie also gleichzeitig als Kind existenziell abhängig von ihren Eltern sind und bei ihnen Liebe und Nähe suchen und bekommen müssen, erleben sie in deren Gegenwart Todesangst oder werden schlichtweg einfach verlassen oder vernachlässigt.

Bei emotional bedeutsamen Beziehungen wie Partnerschaften werden diese traumatische Erfahrungen wieder aktiviert. Emotionale Bindung haben Betroffene früher als sehr chaotisch und unberechenbar erlebt und somit wissen sie auch als Erwachsene in Beziehungen oft nicht, wie sie mit Situationen der Verletzung, Enttäuschung oder des Alleineseins konstruktiv umgehen können. Deswegen können auch die Gefühle für die oder den Partner genauso schwanken wie die eigenen Gefühle: An einem Zeitpunkt ist er oder sie der tollste Partner der Welt – erlebt der oder die Betroffene eine Enttäuschung, kann es innerhalb von Sekunden zu einer starken Abwertung des Gegenübers kommen.

Beziehungen sind mit diesem Muster komplizierter zu führen und kommen öfter in Ausnahmesituationen. Beziehungsunfähig ist jemand mit BPS deswegen jedoch nicht. Im Gegenteil: Die große emotionale Bandbreite und Sensibilität kann die Beziehung besonders intensiv machen. Auch sind viele der Betroffenen durch ihre Emotionalität sehr empathisch.

Wichtig ist auch immer, den Menschen hinter der Krankheit zu sehen. Personen mit einer BPS haben trotz der Erkrankung ihre ganz individuelle und vollständige Persönlichkeit. Sie haben obendrauf noch Symptome einer Persönlichkeitsstörung, die in bestimmten Momenten zu Schwierigkeiten führen. Aber sie als Person sind nicht „gestört“. In einer Therapie können korrigierende Beziehungserfahrungen gemacht und Techniken gelernt werden, die Betroffenen helfen, ihre schnellen Schwankungen in den Gefühlen und Gedanken zu erkennen und besser mit ihnen umzugehen.

Ein gemeinsamer Beitrag von Lisa Wittig und Julian Schmitz

MoreCare Week – Die Mental Health Themenwoche von MoreCore.de

Wir haben für euch folgenden Content vorbereitet:

  • Ein Interview-Format namens #AskTheScene, in dem wir verschiedene Künstler und auch andere Mitglieder der alternativen Szene zu Themen aus dem Bereich Mental Health befragt haben
  • Kurze Fact-Videos, die zur Entstigmatisierung von psychischen Störungen beitragen sollen
  • Info-Artikel über Umgang mit psychischen Belastungen von Künstlern und Szene-Angehörigen
  • Eine besondere Podcast-Folge zum Thema Mental Health
  • Besondere Fachartikel für Angehörige und Interessierte
  • Persönliche Artikel der Redaktion

Eine Übersicht über die Inhalte der Woche findest du hier. Wenn ihr Fragen, Anregungen oder Kritik habt, dürft ihr euch gerne an MHW@morecore.de wenden. Wir freuen uns über euer Feedback!

Solltest du selbst das Gefühl haben, dass du dich in einer belastenden Situation befindest, dann kontaktiere bitte umgehend die Telefonseelsorge (www.telefonseelsorge.de). Unter der kostenlosen Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhältst du anonym Hilfe von Beratern, die mit dir Auswege aus schwierigen Situationen finden und eine großartige Stütze sein können. Danke, dass du es versuchst!

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