Live

Progressive

Live bei: The Contortionist „Clairvoyant“ Livestream (15.05.2021)

Nicht von dieser Welt.

VON AM 24/05/2021

Um den Auftritt kurz und knackig in einem Satz zu beschreiben: (Er ist) nicht von dieser Welt. Zugegeben, das klingt jetzt erstmal völlig überzogen, aber tatsächlich haben die Jungs von The Contortionist alle Räder in Bewegung gesetzt, um eine solche mystische Stimmung in ihrem Livestream zu „Clairvoyant“ auszulösen.

Wer The Contortionist kennt, der weiß mit welchem Fingerspitzengefühl die Progressive Metal-Band rund um den Sänger Michael Lessard ihre Anhänger verzaubern kann. Denn selbst wenn man es nicht wollte, hätte man es mit Sicherheit verdammt schwer, sich dem zu entsagen.

Euch ist die US-amerikanische Band aus Indianapolis noch kein Begriff? Dann möchte ich euch die musikalische Fasson so beschreiben: Progressiv, fast post-rockig begleitet wird die kühle, durchdringende Stimme Lessards von dem experimentellen Ausdruck der Band. Und genau dieses Experimentell-Ungewohnte hinterlässt in der Gesamtatmosphäre einen beinahe übernatürlichen, hypnotischen und überirdischen Eindruck.

Es ist 1 Uhr nachts mitteleuropäischer Zeit, als sich die virtuellen Pforten des Livestreams öffnen. Wir finden uns in einer abgedunkelten, einer einem Loft ähnelnden Location wieder, in der alles in einem kühlen, blau-violetten Licht erstrahlt.

Die Stimmungslage, die von dem allgemeinen Setup ausgeht, ist nicht festlich oder feierlich, wie man es sonst so von den meisten Konzerten gewohnt ist. Stattdessen wirkt die Grundstimmung durch das dunkle Lichtarrangement ernst und getrübt und das aus gutem Grund: In einem Interview erklärte der Sänger die tragischen Hintergründe zu „Clairvoyant“, in denen der Drogentod eines Freundes verarbeitet wird. Dadurch überkommt mich von vornherein ein Gefühl der Anspannung, während uns der erste Song in die Show eintauchen lässt.

The Contortionist
Bild: „Clairvoyant“ Livestream (15.05.2021)

Den Auftakt macht das Sextett mit dem Albumopener „Monochrome (Passive)“. Er stellt das genaue Gegenstück zum letzten Song „Monochrome (Pensive)“ dar. Dass der Longplayer in seiner Zusammensetzung so gut durchdacht ist, löst in mir als Konzeptpedantin Luftsprünge der feinsten Sorte aus. The Contortionist haben eine Geschichte (in Zyklen!) zu erzählen und das ist einfach nicht zu überhören.

Live entfaltet der Opener seine desillusionierende Wirkung um ein Vielfaches mehr. Synths und Gitarren gehen dabei Hand in Hand, während das Drumset recht träge – oder wie der Titel es verrät passiv – durch die ersten Minuten der Show schreitet.

Diese Bedachtheit lassen sie in „Godspeed“ schlagartig hinter sich: Im Nullkommanix zeigen Drummer Joey Baca und die beiden Gitarristen Cameron Maynard und Robby Baca, wie ein energiegeladener Einstieg auszusehen hat. Erst jetzt bekommen wir zum ersten Mal an diesem Abend den Frontsänger zu hören, der von Beginn an mit seiner ruhigen und doch energischen stimmlichen Mentalität die Hörer (oder zumindest mich) in seinen Bann zu ziehen weiß. Und auch das letzte Drittel des Songs, das gut ohne Vocals auskommt, hinterlässt einen bleibenden Eindruck.

Hinter „Reimagined“ verbirgt sich eine Ballade, die avantgardistische Züge trägt. So richtig überzeugt mich diese Komposition nicht, da der ohnehin schon sanfte Gesang für meinen Geschmack besser durch wuchtige Instrumente komplettiert wird. Der Klang des Songs transportiert eine unverfälschte Trostlosigkeit, die dem Sänger nur so aus seinem Gesicht abzulesen ist.

„Clairvoyant“ als dynamische Achterbahnfahrt

In dieser Show-Achterbahnfahrt der Dynamik haben wir mit „Clairvoyant“ einen der Höhepunkte erreicht: Der gleichnamige Albumtrack zeichnet sich durch Power und Rhythmik aus und diese Energie lässt sich zu 100 Prozent an der Mimik und Gestik der Musiker ablesen. Vor allem beim Gitarristen Cameron Maynard scheint der Energiefunke übergesprungen zu sein, denn dieser genießt mit einem verschmitzten Lächeln den Titel in vollem Maße, dass diese Aufgewecktheit auch mich als Zuschauerin mitten in der Nacht förmlich ansteckt.

Auf der Platte sind Screams leider Mangelware, aber das soll nicht für diesen Song gelten, der neben dem (und das stellt keine Übertreibung dar) engelsgleichen Gesang auch pointierte Screams zulässt. Gänsehauterregend ist mit Abstand der letzte Vers „What’s the price of it?“, denn diese Frage durchläuft den Song wie ein Mantra.

Mit „The Center“ verändert sich etwas: Es findet ein auffälliger Farbwechsel statt und auf einmal erscheinen die Jungs in einem hellen Licht. Das klingt jetzt sehr nach Kirche, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass diese Assoziation genauso hergestellt werden soll, denn die ganze Zeit über ziert das Logo des Livestreams unübersehbar die Venue: Ein kreisförmiges Ornament, das an die Blume des Lebens erinnert.

The Contortionist
Bild: „Clairvoyant“ Livestream (15.05.2021)

Und genau durch dieses Gesamtbild erhält das Event insgesamt einen mystischen Touch. So oder so verspricht der Farbwechsel in „The Center“ ein paar heitere Momente, obwohl der Track nicht mit weniger Beherrschtheit performt wird. Ähnlich wie „Reimagined“ glänzt der Titel nicht etwa mit Tempo, aber mit der unerschütterlichen Kraft in den Vocals, die mich zum Ende des Songs wie ein explodierender Vulkan vom Hocker reißt.

Unerschütterliche Vocals bei The Contortionist: In der Ruhe liegt die Kraft

Einen anderen, nämlich synthetischen Zugang erhält man in „Relapse“, wo Eric Guenther am Keyboard hervorsticht. Stilistisch finde ich diesen Song mit am interessantesten, denn hier kommt echt alles zusammen: Ein Progressive-Part der extravaganten Sorte, gepaart mit klassischen Pianoelementen, Synths und orientalischen Gitarrenriffs. Eine besondere Finesse wird auch textlich hergestellt, indem eine kurze Sequenz aus dem Song „Clairvoyant“ übernommen wird. Ja, dieser Track ist wirklich komplex und höchst experimentell, aber genauso spannend ist es für die Zuschauer, die Jungs dabei zu beobachten, mit welcher Hingabe und Perfektion sie ihre Instrumente beherrschen.

Woran erkennen wir, dass sich der Tag dem Ende neigt? Genau, die Sonne geht unter! Analog dazu verändert sich das Licht in „Return To Earth“ erneut zum Dunklen. Schon vorher war ich ein Fan von dem Tune, aber der auditive Eindruck bestätigt sich auf ein Neues in der Liveperformance: Die Truppe zieht für diesen Powertrack alle übrig gebliebenen Register und geben noch einmal alles. Wenn man dem Sprichwort Folge leisten würde und man wirklich immer dann „aufhören sollte, wenn es am Schönsten ist“, würde ich in diesem Augenblick rundum glücklich den Nachhauseweg antreten.

Aber der Weg bleibt mir bei einem Livestream, den ich mir von Zuhause aus angucke, glücklicherweise erspart und auch das Ende ist hiermit noch nicht erreicht – zum Glück! Denn vielleicht ist euch das merkwürdige Phänomen ja auch bekannt, dass ihr euch mehrfach ein Lied anhören müsst, bis ihr es endlich liebgewinnen könnt. Tja, das ist mir heute mit dem finalen Track der LP passiert.

Der Kreis schließt sich erst mit dem Outro „Monochrome (Pensive)“ und der hat’s von der Message her in sich: Dieser Song scheint nicht nur dem Verstorbenen gewidmet zu sein, er richtet sich auf direktem Wege an ihn und stellt nichts weniger als eine Verabschiedung dar. Wieder einmal spricht das Lichtarrangement Bände, denn nun erstrahlt die ganze Location in bunten Farben, als sich die Jungs mit dem Outro bei ihrem Freund und zeitgleich auch von uns verabschieden.

The Contortionist
Bild: „Clairvoyant“ Livestream (15.05.2021)

Ich bin beeindruckt, mit welcher Standhaftigkeit, Fassung und Energie The Contortionist die Show gemeistert haben. Und obwohl der Stream ohne Vorband und Interview knapp eine Stunde lief, hätte ich dem reinen und ehrlichen Klang Michael Lessards, der eine geringe Prise stimmlichen R&Bs versprüht, noch deutlich länger lauschen können. Allerdings wäre das Konzerterlebnis außerhalb der digitalen Weiten und vor allem mit anderen Musikliebhabern ohne Zweifel viel intensiver gewesen.

Wer von Prog Metal und Djent nicht abgetan ist, dem darf The Contortionist als Empfehlung für einen Konzertbesuch dabei nicht durch die Lappen gehen. Vor allem dann nicht, wenn es ab 2022 hoffentlich wieder heißt: „Geht mehr auf Konzerte!“

Beitragsbild: „Clairvoyant“ Livestream (15.05.2021)

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