Review

HardcorePunkrock

Kritik: Raised Fist - "Anthems"

“We felt like we created a masterpiece.” Zeitsprung in die Vergangenheit, 2003, ich sitze im Wohnzimmer meines besten Studienfreundes Sascha ...

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“We felt like we created a masterpiece.” Zeitsprung in die Vergangenheit, 2003, ich sitze im Wohnzimmer meines besten Studienfreundes Sascha und wir hören uns warm für die anstehende Party. Vom Punk-O-Rama 8 Sampler prügeln sich die Highspeed-Drums des Raised Fist-Werkes “Get This Right!”, dem Opener der Überplatte “Dedication” in mein Ohr. THIS!

Diese wütende, stakkatohafte Stimme, der Bass- und Gitarrensound, die Drumfills… augenblickliche Liebe. Mit “Sound Of The Republic” 2006 und daraus dem Titeltrack sowie “And Then They Run” war der Soundtrack für unzählige lange und durchfeierte Clubabende geboren. An einem Abend im April 2007 dann die erste Begegnung im Underground in Köln (R.I.P.) mit diesem Hardcore-Monster aus dem schwedischen Luleå, auf dessen Schultern Jiu-Jitsu-Kampfsportler und Trainer Alexander “Alle” Hagman thront.

Und diese unbändige Energie der Aufnahmen konnte die Band auf der Bühne nochmal verdoppeln, wenn nicht sogar verdreifachen. Kein Mensch springt höher als Alle, niemand schreit eine Stunde so konstant auf einem Level wie er. 2009 folgen noch “Veil Of Ignorance” und 2015 “From The North”, das in Schweden sogar bis auf Platz 6 der Charts stieg. Zwei gute Alben, aber an die Songs davor kamen sie für meinen Geschmack nicht ganz ran.

Zeitsprung, vier Jahre später. Wir schreiben das Jahr 2019, es ist September und Raised Fist überraschen mit der Ankündigung ihrer Platte “Anthems” schon für den 15. November desselben Jahres. Im selben Zuge veröffentlicht die Band den Song “Anthem” – Nummer 3 von zehn Tracks – samt Lyrics-Video, dessen Produktion, Editing, Animation und Visual Effects der Shouter höchstpersönlich übernommen hat.

Das Album, das nur knappe 30 Minuten zählt, ist mit Absicht kurz und knackig gehalten, sagt Hagman. Es gab zehn grobe Songideen und hätte sich während des Schaffensprozess’ noch ein neuer Song entwickelt und wäre er besser als ein anderer gewesen, hätte er diesen aus dem Konzept gekickt. Zehn Songs, keiner mehr, keiner weniger. Dieses Prinzip hätten sie bisher noch nie genutzt, zogen es aber nahtlos durch.

Ein Rock ‘n Roll-Album sollte es werden. Etwas, das man leicht greifen und verinnerlichen kann, nicht allzu viel Bedeutung, Tiefe und Symbolik. “It’s like AC/DC, meaningless but sometimes you just want to have a beer, listen to a song and understand the whole thing from the start.” Dass sich Raised Fist als Hardrock-Band verstehen, die auf einem Hardcore- und Punkrock-Fundament fußt, hatte Alle uns erst kürzlich im Interview mitgeteilt.

Und jeder Song sollte eine Hook bekommen, die sich in die Köpfe der Hörer einbrennt. Wer sich an Textzeilen wie “My name is Alexander, the Raised Fist commander” (“Friends and Traitors”) erinnert, weiß, dass die Schweden mit einprägsamen Textzeilen keine großen Probleme haben.

Als Produzenten hat man sich Roberto Laghi und Jakob Herrmann geholt und “Anthems” in den Top Floor Studios in Göteborg sowie den Oral Majority Recordings eingespielt und umgesetzt. Das Duo sollte dafür sorgen, dass Drums und Vocals denselben Raum erhalten, wie die Musik und Melodien. Doch kann das Quintett halten, was es verspricht?

“Venomous” startet mit einem Effekt, als läge die Nadel des Plattenspielers bereits auf dem Vinyl und der Hörer drückt die Start-Taste. Ein typisches Raised Fist-Riff folgt und Hagman rappt sich in seiner markanten Art durch die von Bass und Drums dominierten Strophe bis zur Bridge, die dann in einen überraschend melodiösen Gesangspart mit unverzerrter (!) Gitarre schwenkt. Und wie “angedroht” hat der Frontmann hier in der Tat ziemlich viel Raum. Das klingt schon im Ansatz recht poppig. Dafür kehrt die Band im Refrain dann zurück zu gewohnter Härte.

“Seventh” beginnt mit monotonen Drum-/Gitarrenanschlägen. Und wieder fällt auf, dass die Gitarren doch etwas hintergründig erscheinen. Es fehlt etwas an Crunch, Biss und Rotzigkeit. Für die machinengewehrartige Gesangsleistung in der Bridge hätten andere vermutlich zwanzig Papiertüten durchhyperventiliert. Und wie beim Opener findet Hagman im C-Part dann wieder verdammt viel Raum für seine Melodiestimme, die der Geschichte dienlich teilweise ins Erzählerische kippt. “Another straight from the heart, when all the others fell apart” ist eine der erwähnten Hooks, denen der Shouter eine hohe Priorität eingeräumt hat.

Die erste Single “Anthem” hat mit Zeilen wie “Put your fist to the sky if you love it” ein ebensolches Mitsing-Potential. Das Intro kommt düster, zieht aber etwas an und klanglich erinnert vieles an früher. Was auffällt, ist aber das allgemein reduzierte Tempo der Nummer. Hätte man hier ein paar bpm draufgelegt, hätte die Nummer auch auf “Dedication” landen können. Dank YouTube könnt ihr selbst den Test machen und die Nummer mal auf das 1,25-Fache der Originalgeschwindigkeit setzen.

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“Murder” ist mit 02:40 Minuten eine der knapperen Nummern, die mit einigen Varianzen im Rhythmuskonstrukt überraschen kann. Und auch die Harmonieführung schlägt ungewöhnliche, aber willkommene Wege zum Refrain ein, der mit der Punchline “We are Raised Fist, this is how it is” klarmacht, mit wem man es zu tun hat. In einer Art C-Teil wiederholt Hagman den Erzählstil aus “Seventh” und steht mehr als deutlich damit im Vordergrund.

Rockhymnenartig startet “Into This World”, der in der Strophe eine fast beschwingte Gitarrenlinie präsentiert. “Into this world with a skydiver-smile” sind Zeilen, die den Hörer unentschieden schmunzeln lassen. Und wurde “Anthem” bei YouTube bereits mit Disturbed verglichen, so trifft diese Analogie doch eher auf den Refrain des fünften Songs zu, der hinsichtlich Melodieführung beinahe mittelalterlich anmutet und auch wieder wenig der altbekannten Härte und Prägnanz vorweisen kann.

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Das überlange Schlagzeugintro von “Shadows” lässt hoffen, die Frustkeule von „Anthems” entdeckt zu haben. Tatsächlich ist das Tempo etwas dynamischer als bisher, jedoch entpuppt sich der Song als lupenreiner Punkrock-Song, nur eben mit der charismatischen Scream-Stimme Hagmans. Belege dafür sind nicht nur die gemäßigte Akkordfolge, die Palm Mute-Anschläge und die typische vorgezogene Punkrock-Betonung im Refrain, sondern auch der hypermelodiöse C-Teil, in dem Hagman bisher ungeahnte Qualitäten als Clean-Sänger offenbart.

Mit der siebten Nummer “Oblivious” werde ich hellhörig. Der Bass… eine Referenz an “Message Beneath Contempt” vom 2002er “Dedication”. Yes! Und ab geht’s…nicht. In der Strophe dominieren Hagman und Drums (die bisweilen interessante Spielereien an der HiHat zu bieten haben), die Gitarre unterstützt lediglich den Doppelgesang Hagmans aus Melodie und Screams. Im Refrain kombiniert der Shouter seine Screams erneut mit seinen Melodieideen und kreiert einen mitsingfähigen Chorus für jedermann, der live mehr als gut funktionieren könnte. Ein wenig Melancholie macht sich breit im instrumentalen C-Teil, der in typischer Popsong-Manier in den letzten Refrain ausleitet.

“Polarized” beginnt böse. Bass und Gitarre harmonieren düster, inhaltlich beklagt Hagman die Missstände der Welt und so fügt sich dann auch das Gesamtbild gut zusammen. Schon nach einer guten Minute finden wir uns aber in einem der supercleanen Parts wieder, die auch in einigen der vorherigen Songs einen überraschenden Effekt hatten. Die Düsterkeit weicht, die Stimmung des Songs ändert sich beinahe komplett, wenngleich es inhaltlich weiter rigoros zu Werke geht und Hagman wütend mahnt, dass das alles kein Computerspiel sei. “Violence. Hatred. Animosity” schmettert er dem Hörer abschließend entgegen.

Die vorletzte Nummer “We Are Here” klingt neubekannt, also wie eine Referenz an vorherige Songs des vorliegenden Albums. Mit “Hey, we’re here, let’s make it loud and clear!” hat Hagman auch hier seine Hook platziert, die mit einer leicht zu merkenden Melodie schnell im Ohr ist und sobald auch nicht mehr vergessen wird. Überraschend kommt der Breakdown bei Minute 02:05. Kein hochkreatives Rhythmuspattern, aber ein willkommener Kontrast zu vorangegangenen Harmonien.

Mit dem 03:23 Min. langen “Unsinkable II” (eine Referenz zu “Unsinkable” vom Album “From The North”) beschließen Raised Fist ihr siebtes Album. Und anders als bisher steht Hagman hier nicht erst im C-Teil mit seiner Clean-Stimme im Vordergrund, sondern leitet die Nummer direkt damit ein. Der Refrain, der konträr zur Strophe Halftime gespielt wird birgt in der Tat vielleicht die beste Hook der gesamten Platte durch seine aszendierende Gesangslinie. So baut Hagman – unterstützt durch Rhythmus und Gitarre sowie Bass – die Melodie in einer stakkatohaften Art und Monotonie auf, bis sie im vergleichsweise langezogenen und hohen “Unsinkable” gipfelt. Bis auf den wehklagenden Unterton beider Refrains hat “Unsinkable II” nicht viel gemein mit der eher im Hardcore verankerten 2015er Nummer “Unsinkable”. Ein cleaner Mollakkord schließt die metaphorische Türe des Albums nach exakt 29 Min und 32 Sekunden.


Foto: Raised Fist / Offizielles Pressebild

ALBUM
Anthems
Künstler: Raised Fist

Erscheinungsdatum: 15.11.2019
Genre: ,
Label: Epitaph Records
Medium: CD, Vinyl

Raised Fist Anthems
Raised Fist Anthems
7.5
FAZIT
“Anthems” ist das, was Raised Fist erreichen wollten - eine Zusammenstellung von zehn ähnlich gearteten Songs, die allesamt irgendwie eine Hook, ein leicht zu erinnerndes Fragment besitzen. Dass es genau zehn Songs sein mussten und keiner mehr, egal, was da komme, sei dahingestellt. Was stutzig macht, ist die Zurückhaltung der Gitarren. Stellenweise könnte man meinen, dass hier nur ein Gitarrist am Werke ist, obwohl mit Jimmy Tikkanen und Daniel Holmgren acht bzw. 18 Jahre Gitarrenerfahrung innerhalb der Band an der Platte mitgearbeitet haben. Man hat das Gefühl, die Gitarren sind an die Leine gelegt.

Sie wollen und könnten, dürfen aber nicht - im Sinne des Soundkonzepts oder woran auch immer diese Entscheidung liegen mag. Damit zusammenhängend überrascht auch das eher gemäßigte Tempo der Platte nicht. Wo früher zumindest immer noch klare Fragmente aus dem Hardcore auch an den Instrumenten durchschienen und nicht nur Hagmans Stimme das härteste Element der Songs darstellte, so finden sich auf “Anthems” kaum noch Spuren der Vergangenheit. Ein Drumfill hier, ein Basspart da. Aber subjektiv betrachtet der Hardcore wurde zur Ruhe gebettet. Im Interview sagte uns Sänger Alle, dass es eben genau der Oldschool-Hardcore sei, den er auf der Platte sieht. Zählt man die von ihm erwähnten Bands wie Judge zu diesen Aspekten, mag der Hardcore noch existent sein. Was hier einfach nicht ganz passt, ist der Sound.

"Anthems" ist glatt. Nicht überproduziert, aber eben leicht verdaulich, ohne Kanten, Ecken, Risse, Dreck. Raised Fist haben definitiv experimentiert. Sie sind von ihren üblichen Strukturen abgewichen, haben mit für sie neuen Sounds herumgespielt und eine Linie verfolgt. Schade ist dabei nur, wenn vor lauter Zielstrebigkeit die Spontanität verloren geht und das Fundament, auf dem diese Band ihren Sound in meinen Ohren aufgebaut hat allzu oft aus den Augen verloren wird. Sicherlich werden Raised Fist mit “Anthems” neue Fans gewinnen und auf ihrer Tour mit Boysetsfire in größeren Hallen auch die richtigen Nummern platzieren können, um ein paar Chöre im Publikum zu wecken. Um es bildlich auszudrücken: Persönlich hätte ich mir mehr Roundhouse Kicks und weniger Tai Chi nach vier Jahren Wartezeit und mit massig inspirierenden, weltpolitischen Themen gewünscht. Mehr auf die Fresse und weniger in den Arm nehmen - so sehr ich auch Pazifist bin.