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Kritik: Long Distance Calling - "Eraser"
Klima- und Umweltschutz haben inzwischen in der öffentlichen Diskussion endlich den Stellenwert, den sie verdienen. Ob dadurch auch genug für ...
VON
Mauritz Hagemann
AM 01/09/2022
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Klima- und Umweltschutz haben inzwischen in der öffentlichen Diskussion endlich den Stellenwert, den sie verdienen. Ob dadurch auch genug für die viel zitierte „Bewahrung der Schöpfung“ getan wird, steht natürlich auf einem anderen Blatt. Auch Long Distance Calling beschäftigen sich auf ihrem neuesten Werk „Eraser“ mit der Thematik. Allerdings unter einem eher ungewöhnlichen Blickwinkel. Das Prog-Quartett aus Münster nimmt sich auf „Eraser“ – der Name verrät es schon – das Artensterben vor – auch das ist eine sehr ernst zu nehmende Folge von Umweltzerstörung und Klimawandel.
9 Songs über das Artensterben
Die Band hat sich auf dem 9-Track-Album abgesehen vom Intro jeweils einer gefährdeten Art gewidmet. Nach dem schon erwähnten Intro „Enter: Death Box“, das durch den Piano-Einsatz für viel Melancholie sorgt, geht es mit Blades richtig los. Die Nummer ist gerade für diejenigen, die noch nicht allzu viel Erfahrung mit der Musik von Long Distance Calling gemacht haben, ein guter Einstieg. Zum einen ist das Songwriting für Progressive-Verhältnisse noch einigermaßen überschaubar, zum anderen vermisst man den – nicht vorhandenen – Gesang nicht wirklich. Ob das bei den anderen Songs auch der Fall ist? Das ist wohl in erster Linie Geschmackssache. Wir sind es bekanntlich gewöhnt, Songs mit Gesang zu hören – oder wie der Marketing-Experte sagt „zu konsumieren“. Bei Blades, das dem Nashorn gewidmet ist, fehlt der Gesang jedenfalls nicht.
Long Distance Calling: Musikalischer Detox
Der folgende, dem Gorilla gewidmete Track „Kamilah“ spielt die gesamte Stärke der Münsteraner aus. Der Song steigert sich im Verlauf immer mehr, sodass auch hier genügend Abwechslung vorhanden ist, um gar nicht erst an Gesang zu denken. So ist „Kamilah“ auch ein gutes Beispiel dafür, was die Musik von Long Distance Calling bewirken kann. Ähnlich wie einem Buch, bei dem man die Bilder im Kopf malen muss, anstatt sie auf der Kinoleinwand präsentiert zu bekommen, ist es auch bei den Songs von „Eraser“. Gäbe es zu jedem Song und jeder bedrohten Art Lyrics, so würde man sich wohl kaum ähnlich intensiv in den Song hineinversetzen. Die Band liefert das Thema und die Musik, alles andere passiert bei den Hörer:innen im Kopf. Eine Art musikalischer Detox – sehr empfehlenswert.
Jede Menge natürliche Elemente
Während „500 Years“ (dem Grönlandhai gewidmet) gerade zum Ende wahnsinnig brachial wird, stellt „Sloth“ eine Besonderheit auf „Eraser“ dar. Der äußerst verschlungene Track, der einen überraschenden Gastauftritt des verehrten Saxophonisten Jørgen Munkeby (von Shining aus Norwegen) enthält, zeigt die ganze Bandbreite, die Long Distance Calling zu bieten hat. Die Band hat für „Eraser“ im Vergleich zum Vorgängeralbum sehr bewusst darauf verzichtet, auf elektronische Elemente zu setzen. Alle Instrumente sind echt und live eingespielt, was natürlich einen gewissen Mehraufwand bedeutet. Doch zu einem solchen Konzeptalbum, das sich vor allem mit der Natur beschäftigt, passt es.
Dramatisches Ende – ohne erhobenen Zeigefinger
Und der Aufwand hat sich fraglos gelohnt. Das Album bleibt auch im hinteren Teil lebhaft und es macht Spaß, sich in die einzelnen Songs hineinzuversetzen. Ein Song wie der der Biene gewidmete „Blood Honey“ lässt genügend Zeit zum Durchatmen und Innehalten, bevor es dann mit dem Titeltrack zum Abschluss noch einmal richtig zur Sache geht. „Eraser“ ist dann konsequent auch nicht einer bedrohten Art gewidmet, sondern denjenigen, die für die Bedrohung verantwortlich sind – den Menschen. Hier zeigt sich nicht nur wieder einmal die musikalische Vielfalt und Kreativität des Quartetts. Long Distance Calling sehen sich auch nicht dem Vorwurf ausgesetzt, mit dem erhobenen Zeigefinger den Hörer:innen irgendetwas erzählen zu wollen. Stattdessen sprechen sie durch ihre Musik – und jede:r kann und muss sich seine eigenen Gedanken machen.
Gesang? Bei Long Distance Calling nicht nötig!
Für ihre zeitweiligen Versuche, doch mit Gesang zu arbeiten, hat die Band viel Kritik aus der Fanszene einstecken müssen. Ob diese Kritik berechtigt war, sei dahingestellt. Doch Long Distance Calling schaffen es auf „Eraser“ wieder einmal, dass ihre Musik auch ohne Lyrics wirkt. Und nicht nur das. Sie entfaltet ohne Texte eine ganz andere Wirkung – auch auf neue und neugierige Hörer:innen. Einfach ausprobieren und die Musik auf sich wirken lassen. Es lohnt sich, versprochen!
Foto: Long Distance Calling / Offizielles Pressebild
Eraser
Künstler: Long Distance Calling
Erscheinungsdatum: 26.08.2022
Genre: Progressive, Rock
Label: earMUSIC
Medium: CD, Vinyl, etc
- Enter: Death Box
- Blades
- Kamilah
- 500 Years
- Sloth
- Giants Leaving
- Blood Honey
- Landless King
- Eraser
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