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AlternativePost-HardcoreRock

Kritik: Enter Shikari - "Nothing Is True & Everything Is Possible"

08.April 2020, 12:44. Die E-Mail mit dem Link zum Bemusterungs-Stream des neuen Enter Shikari-Albums „Nothing Is True & Everything Is ...

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08.April 2020, 12:44. Die E-Mail mit dem Link zum Bemusterungs-Stream des neuen Enter Shikari-Albums „Nothing Is True & Everything Is Possible“ ist seit etwa 20 Stunden in meinem Postfach. Eigentlich wollte ich heute an meiner Masterarbeit weiterbasteln und hatte mir vorgenommen, mich erst am Wochenende mit der neuen Scheibe der vier Jungs von der Insel zu beschäftigen.

Ich bin kein Fan der ersten Stunde. Richtig gezündet hat bei mir erst „A Flash Flood Of Colour“. Seitdem ist die Truppe aber definitiv eine meiner absoluten Lieblingsbands. Trotzdem habe ich mir vorgenommen, neutral an das Album zu gehen.

Die Tatsache, dass ich just in diesem Moment hier etwas tippe, bedeutet, dass das mit dem Arbeiten an der Masterarbeit nicht so ganz geklappt hat. Ja ich muss zugeben, dass ich vor gut 3 Stunden dachte „Komm, hörste nebenbei schon mal rein“. Ich bin nach dem ersten Song vom Schreibtisch ins Wohnzimmer gewechselt, weil da meine guten Boxen stehen. Nach nun vier Durchläufen der 15 Songs, die in Summe knapp 45 Minuten lang sind, sitze ich immer noch hier und habe mich dazu entschieden, die Rezension vorzuziehen. Manchmal muss man seine Prioritäten halt überdenken. Ihr wisst ja, wie das ist.

Enter Shikari perfektionieren auf „Nothing Is True & Everything Is Possible“ ihren Sound

Das Album beginnt mit „THE GREAT UNKNOWN“, einem Klavier, das in einen Synthesizer übergeht und dann mit den Textzeilen „Is this the new beginning or are we close to the edge?“ Die erste Hälfte der Zeile kann man durchaus wortwörtlich nehmen, was aber nicht bedeutet, dass sich Enter Shikari nicht treu bleiben. „THE GREAT UNKNOWN“ ist ein Shikari-Song, wie man ihn erwartet. Eine Kombination aus sehr synthlastigen Kompositionen und Schlagzeug sowie Gitarren, die ebenfalls sehr präsent im Mix positioniert sind.

On Top fällt von Anfang an auf, dass Rou Reynolds in absoluter Höchstform zu sein scheint. Wie bereits erwähnt, gefällt mir der Song auf Anhieb so gut, dass ich direkt auf die großen Boxen gewechselt bin und eins kann ich jetzt schon vorwegnehmen: Ich bin neidisch darauf, dass ihr euer „Erstes Mal“ mit „Nothing Is True & Everything Is Possible“ noch vor euch habt.

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Der nächste Song hört auf den Namen „Crossing the Rubicon“ und schlägt deutlich sachtere Töne an als der Vorgänger. Was mir schon auf dem letzten Emarosa-Album „Peach Club“ richtig gut gefallen hat, war der Einfluss von 80s-Synth-Wave. Genau diesen Einfluss findet man auch in „Crossing the Rubicon“. Die Produktion schafft es, dass sowohl der polyphone Sawtooth-Synthesizer als auch die angecrunchten Gitarren nicht ineinander matschen, was erfahrungsgemäß gar nicht so einfach ist. Zusammen mit dem warmen Bass entsteht hier der perfekte Soundtrack für einen lauen Sommerabend.

Als nächstes folgt „{The Dreamer´s Hotel }“ der ja bekanntlich eine der vorab veröffentlichten Singles des Albums darstellt. Beim ersten Hören vor einiger Zeit hat mir dieser Song sofort richtig gut gefallen. Die etwas dissonante Strophe, die man fast dem Punk zuordnen könnte, gepaart mit einem – Vorsicht Pop-Trigger incoming – poppigen Gute Laune-Refrain sorgt bei mir immer noch für unweigerliches Kopfnicken und zeigt einmal mehr das riesige Repertoire, das Enter Shikari seit Jahren vorweisen können.

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Nach dem partiell sehr gut gelaunten Ausflug ins Träumerhotel führt uns „Waltzing off the Face of the Earth (I. Cresendo)“ in eine orchestrale Tiefe, die ich so nicht erwartet hätte. Blechbläser verschmelzen mit sehr effektbehafteten Gitarren und den immer präsenten Synthesizern. Der Song hat einen riesigen Spannungsbogen in dem Rou Reynolds zunächst eine sehr klare Ansprache zur aktuellen Situation der Welt hält.

Nach knapp zwei Minuten löst sich die Spannung eine epische Welle aus Gitarre, Orchester und Synthesizern, nur um kurz danach wieder ganz intim zu werden. Die Bläser im letzten Drittel wirken wie das Orchester auf der Titanic, welches bis zum Untergang weitergespielt hat: Etwas surreal, ein bisschen geisthaft, vielleicht sogar etwas deplatziert und am Ende doch stimmig.

„modern living…“ und auch der anschließende Interlude „apøcaholics anonymøus (main theme in B minor)“ beschäftigen sich mit dem Neologismus der „Apøcaholics“, einer Gemeinschaft die, primär mit Gin-Tonic, den Weltuntergang zelebriert. Die beiden Stücke haben einen ziemlichen Laid-back-Grove und einen unfassbaren Tiefgang des Basses. Bei angespannten Nachbarschaftsverhältnissen ist das bestimmt keine Friedenserklärung. Daran einen Gedanken zu verlieren, macht im Anbetracht der nahenden Apokalypse aber wohl keinen Gin mehr (Anmekung an die liebe Julia, die diese Rezension vermutlich in unser CMS einpflegt: Bei diesem Flachwitz-Wortspiel handelt es sich um keinen Tippfehler – ich meine das wirklich ernst). [Anm. d. Red. (Julia): Musste schmunzeln!]

Mit „the pressure´s on“ kommen wir zurück zu dem zuvor bereits angemerkten 80-Synth-Vibe, der in diesem Fall aber noch viel deutlicher wird. Der Refrain sorgt dafür, dass man direkt mitsingen kann und gleichzeitig schafft es die Bridge aus dem Song trotzdem unverkennbar einen Enter Shikari-Track zu machen.

„Reprise 3“ ist eine kurze Hommage an vergangene Zeiten von Enter Shikari. Eine bekannte Melodie zusammen mit einem sehr vocoderlastigen „And still we will be here…“ ist der Vorbote der dritten Singleauskopplung „T.I.N.A.“!

Ich denke, ich kann euch da schonmal das Versprechen geben, dass wir euch „T.I.N.A.“ auf sämtlichen MoreCore Partys um die Ohren zimmern werden. Den Song kann man getrost als Definition eines modernen tanzbaren Rocksongs ansehen. Eine eingängige Melodie gepaart mit treibenden Beats und einer einfach gehaltenen Songstruktur – genau so schreibt man Songs, die ins Ohr gehen und da auch bleiben.

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Auf Uptempo-Rock-Song folgt „Elegy For Extinction“, eine vom berühmten Soundtrack-Komponisten George Fenton (Blue Planet, Plant Earth, My Name Is Joe) bearbeitete und durch das Prager Orchester aufgenommene orchestrale Hymne, die an Epik kaum zu übertreffen ist.

Spätestens JETZT müssen alle Leute, die Songs wie “Rabble Rouser” und andere, sehr elektronisch orientierte Songs von Enter Shikari nicht so geil finden, ganz stark sein. „Marionettes (I. The Discovery of Strings)“ könnte man auch auf einer der kleineren Bühnen von Tomorrowland oder Parookaville hören. Beginnend mit einigen sehr zart gesungenen Zeilen von Rou Reynolds, entwickelt der Song sich zu einer mitreißenden House-Nummer. Im Refrain findet man einen extremen Vocoder-Effekt, wogegen man Gitarren mit der Lupe suchen muss.

„Marionettes (II. The Ascent)“ schlägt zunächst in die gleiche Kerbe, sorgt gegen Mitte des Songs aber für die Rückkehr der Gitarre. Ich bin ein großer Fan davon, wie Enter Shikari hier immer wieder von elektro-lastigen Passagen zu sehr wuchtigen Gitarrenparts und zurück wechseln. Außerdem würde sich der Song großartig als Abschluss eines Live-Konzerts machen, dadurch dass er zum Ende sehr intim wird und die zur Mitte gewonnene Dynamik wieder herunterfährt.

Nun folgt mein persönliches Highlight des Albums: „satellites* *“. Ich habe das Album nun mehrfach durchgehört und der Songs ist jedes Mal wieder wie ein warmer Schauer, der einem den Rücken herunterläuft. Was zunächst wieder sehr intim beginnt, mausert sich zu einem richtigen Gute Laune-Track. Textlich beschäftigt man sich mit dem heutzutage sehr schnellen Lebensstil, bei dem sich Menschen, ähnlich wie Satelliten, quasi nie bewusst begegnen und dass es viel spannender wäre, wenn man ein Komet sein könnte, um aus diesem Trott ausbrechen zu können. Stand jetzt, frage ich mich warum dieser Song nicht als Single ausgekoppelt wurde, aber wer weiß, vielleicht kommt das ja noch bis zur Release der Platte.

Bereits als Single erschienen ist „thē kĭñg“ und an dieser Stelle nochmal Schöne Grüße an die liebe Julia, die das hier wohl in unser CMS einpflegt und sich nun wohl auf die Suche nach diesen wunderbaren Zeichen macht. Ich habe locker 5 Minuten in der Word-Symboliste suchen müssen, bis ich alle beisammen hatte [Anm. d. Red. (Julia): Danke für die Arbeit liebster Jakob, copy & paste macht es mir nun leicht, hihi]. „thē kĭñg“ ist wohl der Song auf dem Album, der den größten Anteil von Gitarren hat, die hier klar die Richtung vorgeben. Trotzdem ist auch hier wie gewohnt alles mit elektronischen Details untermalt.

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Den Abschluss macht der zweite Teil von „Waltzing off the Fae oft the Earth (II. Piangevole)“ und der ein oder andere wird mittlerweile wissen, wie wichtig mir persönlich ein guter letzter Song auf einem Album ist. Ein letzter Song kann als finale Impression eines Albums so viel entscheiden, was die Wirkung betrifft. Fehlt der runde Abschluss, wirkt ein Album schnell unfertig oder nicht zu Ende gedacht.

Mit diesem wieder sehr orchestralen Song dagegen schaffen Enter Shikari einen runden Abschluss. Instrumental bildet man mit Gitarre, Streichern, Bläsern und Synthesizern eine wunderbare Schleife zu dem, was wir zuvor in den einzelnen Songs zu hören bekommen haben.

Enter Shikari schaffen mit diesem Album eine beeindruckende Dualität. „Nothing Is True & Everything Is Possible“ ist absolut am Zahn der Zeit und hat in meinen Augen sogar Potential, in die hier so Rock-müde deutsche Radiowelt einen Fuß in die Tür zu bekommen.

Gleichzeitig ist das Album aber so weit weg vom Mainstream, wie es nur sein könnte. Es ist weder Rock, Pop, Elektro, noch sonst irgendein Genre. Die vier Jungs beweisen hier eindrucksvoll, was musikalisch möglich ist, wenn man sich genau über diese Genre-Grenzen keine Gedanken macht.

Es entsteht ein Album, das zugleich episch, intim, zum Teil auch edgy ist, dabei aber nie erzwungen, sondern immer ehrlich und organisch wirkt. Das Ganze bringt mich zum Entschluss, dass es hier für mich eine Premiere geben wird. Ich werde das erste Mal, seitdem ich Teil des MoreCore-Teams bin, eine perfekte Wertung vergeben.

Etwas, das zum Beispiel Bring Me The Horizon mit ihrem, meiner Meinung nach wegweisenden „Amo“ oder zuletzt Ocean Grove mit ihrem großartigen „Flip Phone Fantasy“ nicht geschafft haben. Bei BMTH damals, weil es auf „Amo” einige wenige Momente gibt, wo die gewollte Edgyness etwas erzwungen wirkte. Bei Ocean Grove, weil ich davon überzeugt bin, dass die Truppe noch offenes Potential nach oben hat.

Enter Shikari dagegen haben hier für mein Empfinden das für diese Band perfekte Album geschrieben. Es ist ein extrem abwechslungsreicher Soundtrack für das neue Jahrzehnt und könnte zu einem Gateway-Album für eine neue Generation von Musikhörern eines Genres werden, das aktuell noch gar nicht wirklich zu definieren ist.

(P.S.: Für die lieben Menschen, die sich wegen meiner Masterarbeit sorgen machen. Die Abgabe ist erst Mitte September. Daumen drücken dürft Ihr natürlich trotzdem gerne!) [Anm. d. Red. (Julia): Los Leute, Daumen drücken – du schaffst das, Jakob!!!]

Foto: Tom Pullen / Offizielles Pressebild

ALBUM
Nothing Is True & Everything Is Possible
Künstler: Enter Shikari

Erscheinungsdatum: 17.04.2020
Genre: ,
Label: So Recordings
Medium: CD, Vinyl, etc

Tracklist:
  1. The Great Unknown
  2. Crossing The Rubicon
  3. The Dreamer’s Hotel
  4. Waltzing off the Face of the Earth (I. Crescendo)
  5. modern living…
  6. apocoholics anonymous (main theme in B minor)
  7. the pressure’s on 8. Reprise
  8. Reprise 3
  9. T.I.N.A
  10. Elegy For Extinction
  11. Marionettes (I. The Discovery of Strings)
  12. Marionettes (II. The Ascent)
  13. satellites
  14. the king
  15. Waltzing off the Face of the Earth (II. Piangevole)
Enter Shikari Nothing Is True & Everything Is Possible
Enter Shikari Nothing Is True & Everything Is Possible
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FAZIT
Für wen ist also „Nothing is True & Everything is Possible“ etwas? Definitiv für jeden, der auf Innovation und die Ignoranz jeglicher Genregrenzen steht.

Künstlern, denen ich aktuell ähnliche Ansätze zusprechen würde, wäre die zuvor genannten Bring Me The Horizon und Ocean Grove, aber auch Künstler wie Grandson, Yungblud oder Fever 333. Musikalisch vergleichen würde ich davon aber trotzdem niemanden.

Gleichzeitig glaube ich, dass sowohl die Leute, die sich sonst eher in den populären Genres wiederfinden, als auch Leute, die sonst eben nichts mit den pooulären Genres am Hut haben, Spaß an diesem Album haben können.