News

Feature

Kommentar: Der Spotify Jahresrückblick ist alles andere als pures Glück!

Eine kleine Rechnung.

VON AM 03/12/2020

Hurra, der Tag ist gekommen. Halb verschlafen öffne ich den MoreCore Redaktionschat und sehe, dass einzelne Redakteure ihren Spotify-Jahresrückblick gepostet haben. Also schnell die App geöffnet und nachgeschaut, was die App dieses Jahr für mich zu bieten hat.

Meine Top 5 Artists, meine Top 5 Songs und sogar mein Top Genre werden mir von Spotify diktiert. Darüber hinaus erfahre ich, dass ich 437 Genres gehört habe, eines davon „Progressive Post-Hardcore“. Ich bin gut im Zuhören, denn ich habe mir einen (!) Podcast angehört. Tatsächlich war es nur einer, weshalb diese Statistik schwammig daherkommt.

 

Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

 

Ein Beitrag geteilt von Spotify (@spotify)

Doch es gibt relevante Statistiken: Ich war unter den ersten 50.000 Plays von einem meiner Lieblingssongs des Jahres, habe 1.358 Artists gehört und insgesamt 103.897 Minuten gehört. Mein Top-Genre ist übrigens Melodic Metalcore, auch wenn ich dieses Jahr fast keinen Metalcore gehört habe, sondern mich 2020 in ganz anderen Genres wohlfühlte.

Schnell meldet sich der erste, dass die Statistik von Spotify nicht mit der von Last.fm übereinstimmt. Stattdessen werden andere Künstler gelistet. Wie es dazu kommt? Ein Rätsel. Ob es überhaupt 437 Genres gibt, sei mal dahingestellt, doch ich frage mich, wie diese Genres heißen. Natürlich kann ich mir unter „Progressive Post-Hardcore“ etwas vorstellen, doch ist dieser Begriff alles andere als geläufig. Das ist jedoch nicht der Punkt, auf den wir uns versteifen sollten, sondern viel mehr, was dieser Jahresrückblick eigentlich bedeutet.

 

Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

 

Ein Beitrag geteilt von SpotifyDACH (@spotifyde)

Schau es dir an. Teile es. Sei stolz darauf.

Spotify empfiehlt uns, den Beitrag zu teilen, damit wir unseren Followern zeigen können, wie unser Musikkonsum im Jahr 2020 war. Egal ob man 10.000 oder 100.000 Minuten gehört hat, wir sollen stolz auf dieses Hörverhalten sein. Darüber hinaus stellt Spotify uns so dar, als wären wir unfassbar genre-offen (ich habe immerhin 437 Genres gehört, wow) und hören entsprechend damit alles, aber nicht den Mainstream. Diffuse Genrebezeichnungen wie „Progressive Post-Hardcore“ unterstützen diese These und zeigen uns von der „edgiesten“ Seite, die nur irgendwie möglich ist.

Spotify sagt, ich habe 443 neue Künstler*innen entdeckt. Dass mir Spotify jede Woche Künstler*innen in meinen Release Radar packt, die zufällig genauso heißen wie eine Metal-Band und die zufällig nur ein Feature auf einem Song mit drei weiteren DJs/DJanes oder Producer*innen haben, ist die einzige mögliche Erklärung für mich. Als Musikjournalist hört man in der Regel viel Musik und auch viel neue Musik, allerdings nicht über Spotify, da sie dort ja erst erscheint, wenn sie veröffentlicht ist. Die Zahl von 443 neuen Künstler*innen kommt mir absolut fragwürdig vor und ist für mich nicht greifbar. Es scheint gar, als würde man hier jeden Act mit einbeziehen, den man gehört hat, egal wie oft oder wie lange.

Dadurch wirkt es jedoch noch mehr so, als wären wir unfassbar offen gegenüber neuer Musik und würden wirklich enorm viel über unsere Grenzen hinaus hören. Ich sage nicht, dass dies nicht so ist, doch sollte man sich selbst fragen, ob diese Zahl überhaupt eine Relevanz und Aussagekraft hat. Dadurch, dass Spotify uns als „so individuell wie irgendwie möglich darstellt“ und zum Teilen dieser Statistiken verleitet, nutzt uns die Plattform als Marketingtool, ohne dass wir es direkt wahrnehmen.

 

Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

 

Ein Beitrag geteilt von MoreCore.de (@morecore.de)

Ihr zahlt Spotify 10 Euro dafür, dass ihr monatlich unbegrenzt Musik streamen könnt. Werbung gibt es in der App nur für eigene Inhalte. Aber würdet ihr darüber hinaus noch Werbung für Spotify machen, da die 10 Euro sich quasi als Freundschaftspreis verstehen? Nein? Ihr macht es wahrscheinlich trotzdem!

Egal, ob ihr euren Lieblingssong mit euren Followern teilt oder einen kurzen Songschnipsel in eure Instagram Story packt, ihr werbt in diesem Moment für einen Artist und für Spotify. Doch wieviel hat der Artist eigentlich davon? Und wieviel Spotify?

Eine kleine Spotify-Rechnung

Ich habe mein eigenes Hörverhalten analysiert und ausgerechnet, was die Anzahl der gestreamten Minuten für die Artists bedeutet.

103.897 Minuten entsprechen 6.239.220 Sekunden.

Nehmen wir an, dass ein Song im Durchschnitt 3:30 Minuten lang ist, also 210 Sekunden.

6.239.220 / 210 = 29.710,57

Unter dieser Annahme habe ich in etwa 29.710,57 Songs gestreamt.

Gehen wir davon aus, dass ein Artist für einen Euro ungefähr 350 Streams benötigt, bedeutet das folglich:

29.710,57 / 350 = 84,88

Ich habe mit diesem Streamingverhalten in etwa 85€ generiert, die an Künstler*innen ausgeschüttet werden. Bei einem Preis von 119,88€ (12 Monate à 9,99€), die ich an Spotify bezahlt habe. Das bedeutet, dass ungefähr 30% meiner Streamingkosten direkt bei Spotify landen und der Rest den Artists ausgeschüttet wird. Wobei das auch nicht heißt, dass das Geld zu 100% bei meinen Lieblingsbands ankommt, sondern erstmal beim Label, das sich seinen Anteil ebenfalls nehmen wird.

Das wiederum bedeutet, dass mein hohes Streamingverhalten zwar Gelder generiert hat, man aber potentiell ca. 150.000 Minuten Musik hören müsste, um nach dieser beispielhaften und geschätzten Rechnung die vollen 100% an Streaming-Gebühren den Artists zuzuführen.

Natürlich funktioniert diese Rechnung nur hypothetisch, denn wir kennen nicht die genaue Anzahl der Streams oder gar die genaue Ausschüttung per Stream. Des Weiteren ist nicht jeder Song 3:30 lang. Ein Song, der 10 Minuten dauert, wird ebenfalls nur als ein singulärer Stream gezählt (die armen Doom-Bands!). Warum Spotify uns die Anzahl der Streams nicht mitteilt, bleibt unklar.

Unter diesem Aspekt und dem Gedanken, dass wir aktiv für Spotify werben, ist das eigene Streamingverhalten etwas, das jeder für sich selbst reflektieren sollte. Insbesondere vor dem Hintergedanken, wen man wirklich unterstützen möchte und mit dem Gewissen, dass der Streaminganbieter die Macht über ein gefährliches Monopol besitzen könnte. Die Band, oder Spotify?

 

Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

 

Ein Beitrag geteilt von MoreCore.de (@morecore.de)

Foto im Auftrag von MoreCore.de: Karoline Schaefer (Cat Eye Photography)

Feature

Kid Kapichi

Hastings vorzeige Punkrocker Kid Kapichi haben seit ihrer Gründung im Jahr 2013 eine Mission: auf die Missstände der Welt, aber …

von